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Impulsvortrag zum Auftakt des 11. Forums der Psychosynthese in Nußdorf am Bodensee, veranstaltet vom Psychosynthese Haus Allgäu-Bodensee in Zusammenarbeit mit KollegInnen und FreundInnen

Im März 1986 kam David Bach vom Psychosynthesis Institute of New York auf Einladung von Ursula Reincke zum ersten Mal nach Wolfegg im Allgäu und hielt dort das erste Psychosynthese Seminar - den allerersten Grundkurs 1 auf deutschem Boden. Damit ist eine tiefer gehende Geschichte verknüpft: Ursula hatte die Psychosynthese gerade noch in Massachusetts bei David und Judith Bach kennen gelernt, bevor sie nach einem 20jährigen Forschungsaufenthalt in USA wieder nach Deutschland zurückkehrte. Hier wollte sie in dieser Methode eine Ausbildung machen, aber sie konnte keine Psychosynthese finden! Also schrieb sie an David, ob er nach Wolfegg kommen wolle, um hier Seminare zu geben und eine Ausbildung aufzubauen. Für David war das eine bedeutsame Anfrage. Er hatte als Kind jüdischer Eltern mit 16 Jahren gerade noch im letzten Moment aus Breslau, wo er geboren und aufgewachsen war, ausreisen können. Mit Ursulas Anfrage schloss sich für ihn ein Kreis, es war ein wichtiges Versöhnungsgeschehen, als er sich nach Deutschland zurück gerufen erlebte.

David kam also, und über drei Jahre lang wurden Grundkurse und unterschiedliche Seminare zu vertiefenden Themen von David Bach und seiner Frau Judy angeboten, bis sich genügend Teilnehmerinnen und Teilnehmer zusammen gefunden hatten, so dass im März 1989 – also 3 Jahre später - die erste Therapeutische Psychosynthese Ausbildung in Deutschland überhaupt starten konnte. In diesen ersten Jahren kamen die TeilnehmerInnen gleich von überall her. Aus ganz Deutschland, Österreich und der Schweiz.

Es war eine aufregende Zeit, viele von Euch werden sich daran erinnern: Psychologie und Psychotherapie eroberten gerade mit Macht die gesellschaftliche Bühne. Diese neue Innerlichkeit wurde getragen von der 68er- und Nach-68er-Generation – zu denen auch wir gehörten -, die einen geistigen Aufbruch ins Leben rief, die den „Muff von tausend Jahren“ wegfegen und mit viel Engagement eine neue Wirklichkeit erschaffen wollte. Diese Generation hat die alten Verhältnisse gründlich durcheinander gewirbelt. Erst rückblickend können wir erkennen, was alles bewirkt werden konnte, aber auch, was sich ganz anders entwickelt hat, als wir es uns gewünscht hatten. Damals war es eine Zeit des Aufbruchs und genauso fühlten wir uns.

Erinnert Ihr Euch an den Psychoboom der späten 70er und der 80er Jahre? Eine Bewegung, die damals auch noch politischen Anspruch hatte. Ich z.B. habe ihn erlebt im Studium in Arbeitskreisen und Workshops, ich war mittendrin dabei in Selbsterfahrungs- und in Frauengruppen, ich habe ihn durchlebt und durchfühlt in Wohngemeinschaften und vielerlei Lebensprojekten: Beratungsstellen wurden gegründet, Frauencafés ins Leben gerufen, Bürgerinitiativen und Stadtteilgruppen fanden sich zusammen, um Einfluss zu nehmen und mitzumischen. 1986 – als die Psychosynthese in Wolfegg ihren Anfang nahm - war all das noch in vollem Gange.

Psychologie und Psychotherapie waren im Begriff sich als ein eigenständiger Bereich aus der Medizin heraus zu differenzieren, sich als eigene Wissenschaft und als eigenes Praxisfeld zu etablieren, ein Praxisfeld, das großen gesellschaftlichen Einfluss nehmen konnte, das als emanzipatorisch gesehen und dem eine starke Veränderungskraft zugesprochen wurde. Die Beschäftigung mit der Innenwelt haben wir als Voraussetzung für eine Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse betrachtet. Die Zuwendung zu den inneren Welten der Psyche war zunächst durchaus auch politisch motiviert. Und: Der Besuch von Selbsterfahrungsseminaren und eine Psychotherapie gehörten geradezu zum guten Ton. Das kam uns in unseren Gründungsjahren zugute.

Zunächst ging es aber um die Entdeckung eines ganz neuen Territoriums: Es ging um die Erforschung der Innenwelt – eines bis dahin noch weithin unbekannten Kontinents. Das war ein unglaublich spannendes Unterfangen! Wie Expeditionen in wilde, unbekannte Regionen, die es in der äußeren Welt ja gar nicht mehr gab! Unsere Forschungsregionen waren die Tiefen und vor allem die noch ganz unerforschten Höhen der Seelenlandschaft. Natürlich gab es auch ganz andere, viel materialistischer orientierte Strömungen, die nicht von Seele sprachen und auch nicht nach ihr suchten, sondern sie schauten z.B. auf den sog. psychischen Apparat oder auf die kognitiven Prägungen. S i e waren die Tonangebenden, w i r waren die Exoten. Es störte uns wenig, dass wir im etablierten Feld der akademischen und der klinischen Psychologie nicht anerkannt waren, Außenseiter waren, wir waren ja Viele und wir waren tief erfüllt von einem Geist, einem Aufruf, einem Auftrag. Wir wollten etwas bewegen, wollten Grenzen überschreiten, wollten Neues ins Leben bringen. Wir wollten gar nicht dazu gehören, wir wollten a n d e r s  sein. Oder anders gesagt: Wir gehörten zu etwas anderem, zu einer alternativen Bewegung, die uns beflügelte und die uns trug.

Zurück zum Psychosynthese Haus. Unter diesem Dach, in diesen ersten Psychosynthese-Seminaren haben wir uns kennengelernt. Schon ein Jahr nachdem David nach Wolfegg gekommen war, also 1987, hatte sich unser Team zusammen gefunden. Jeder von uns hatte bereits vielerlei Erfahrung in unterschiedlichen Tiefen- und Höhenpsychologien gesammelt und brachte sie mit. Gleich schon fanden die ersten Treffen statt mit Gesprächen, ein Ausbildungs-Institut zu gründen. „Über Nacht“ sozusagen musste ein Name gefunden werden. David Bach, der die Rechte für Assagiolis Handbuch der Psychosynthese inne hatte, legte dieses Buch, das vergriffen und nicht mehr zu erhalten war, mit den Hubers vom Astrologisch-Psychologischen Institut in Zürich 1988 neu auf. In diesem Buch sollte auch unsere Adresse aufgeführt werden. Aber: Wie sollte das Kind denn nun heißen? David brachte den Titel Psychosynthese Institut ein, schließlich hatte er das Massachusetts Institute of Psychosynthesis und auch das Psychosynthesis Institute of New York gegründet und war der Leiter beider Institute. Institut fand er gut. Aber uns sagte das irgendwie nicht zu. Ursula sagte sogar, das klinge ja wie Kosmetik-Institut! Wir hatten etwas anderes im Sinn, aber wir konnten es noch nicht formulieren. Die zündende Idee war dann: Psychosynthese Haus. Das war es! Ja, ein Haus wollten wir sein, ein geistiges Haus, um darin zu leben.

Dieser Name sollte sich im Laufe der Jahre als wirklich passgenau für unsere innerste Intention heraus kristallisieren; eine Intention, die uns damals noch gar nicht wirklich bewusst war, und die wir erst im Laufe der folgenden Jahre ins Bewusstsein heben konnten:

Die Intention, einen lebendigen Organismus zu entwickeln - keine feste und sich immer mehr verfestigende institutionelle Struktur, eben kein Institut! -, sondern eine beseelte, sich mit und durch uns weiter entwickelnde Gestalt. Ein lebendiges Haus, das uns und andere beherbergen kann; ein Haus, das mit uns wächst und sich wandelt und umgestaltet, so wie unsere Ideen und unsere Persönlichkeiten wachsen und sich wandeln und unser Bewusstsein sich weiten kann.

Wenn ich jetzt darüber nachdenke, kommt mir das Änderhaus aus der Unendlichen Geschichte in den Sinn. „Das Änderhaus“, heißt es dort, „heißt so, weil es auch den ändert, der darin wohnt.“

Und mehr noch: Das Änderhaus kann sich nämlich auch selbst ändern. Es ändert sich nach den Erfordernissen der Situation und nach den Bedürfnissen der Gäste. Ein weiteres Kennzeichen des Änderhauses ist, dass es innen größer ist, als es außen erscheint. Ist das nicht ein schönes Bild! Ein Haus, das nach außen wenig Raum einnimmt, keinen großen Anspruch entwickelt, das aber nach innen allen Platz hätte, der benötigt wird, Raum für alles, was darin leben, aufwachsen und sich entwickeln will. Ein passendes Bild dafür, wie Entwicklung auf gesunde Weise gelingen kann. Und wäre das nicht überhaupt zukunftsweisend, wenn wir wirklich verstehen würden, was es heißt, im Außen wenig Raum einzunehmen, aber innen immer weiter und tiefer zu werden und auch immer „höher“ hinauf zu reichen?

Ein lebendiges Haus also wollen wir sein, ohne feste institutionelle Struktur. Übrigens haben wir in den 30 Jahren unserer Zusammenarbeit nie einen juristischen Vertrag miteinander abgeschlossen. Wir haben immer darauf vertraut, dass unser Wort genügt. Wir haben alles miteinander besprochen und, wenn es schwierig war, zu einer Entscheidung zu finden, so lange gerungen, bis alle mitgehen konnten. So ist es bis heute geblieben. Und ich kann sagen, das Haus war manchmal sehr lebendig! Denn im Miteinander bleiben die Konflikte ja niemals aus. Und erst aus dem Rückblick kann man meist erkennen, wie solche mühsamen Phasen der Auseinandersetzung, der schwierigen Gefühle und des ungemütlichen Miteinanders überhaupt erst wieder eine neue Lebendigkeit erschaffen haben, die uns wieder neu und anders miteinander verbunden hat. Das Änderhaus, so heißt es in der Unendlichen Geschichte, hat verwandelnde Kraft. Sie tut ihre Wirkung leise und langsam wie das Wachstum einer Pflanze.

Nicht, dass ich oder dass wir der Illusion verfallen, dass wir ein Änderhaus wären mit solcher Wandlungskraft. Aber der Wunsch, die Vision, ein Haus zu errichten, in dem solches wohnen kann, das war unser Anliegen.

Das Haus war übrigens nie als materielles Haus gemeint, obwohl das bis heute oft verwechselt wird, weil die Menschen anscheinend das Bedürfnis haben, ein Haus zu verorten. Für uns war es aber immer ein geistiges Gebilde, das durch uns 4 erschaffen und erbaut wird, immer wieder neu – eben ein Änderhaus! - durch unser Handeln, durch unsere Haltung, durch unser wachsendes Verständnis, durch unser Miteinander im Geist der Psychosynthese -, immer wieder neu, so wie wir den Geist der Synthese verstehen und wie wir ihn verkörpern wollen.

Dass diese unsere Intention, ein Haus zu errichten, das die uns eigene Psychosynthese verkörpern und ausstrahlen sollte, mit jener Assagiolis zusammenging, war uns in unseren Anfängen längst noch nicht bewusst. Als der Name gefunden wurde, kannten wir Assagiolis Vision noch gar nicht. Das Buch, in dem sie formuliert ist, wurde ja erst 1992 in deutscher Sprache aufgelegt (und 2008 dann neu von Elke Gut im Nawo-Verlag): Psychosynthese und transpersonale Entwicklung.

Assagioli hat sich, wie wir dann später erst bei ihm gelesen haben, nachdrücklich gewünscht, dass die Psychosynthese im Geiste eines neuen Paradigmas aufgebaut und gestaltet werden möge, wenn sie den eigentlichen Kern ihrer Botschaft auch in ihrer äußeren Form verkörpern und damit wirklich in die Welt hinaus tragen will. Für die Psychosynthese formulierte er ein vielfältig gestaltetes Zukunftsbild: "Es gibt keine Orthodoxie in der Psychosynthese, und niemand, bei mir selbst angefangen, kann in Anspruch nehmen, ihr wahrer Repräsentant, Kopf oder Führer zu sein. (...) Wenn wir von dieser allgemeinen Annahme ausgehen, dann ist einleuchtend, dass Psychosynthese nicht ausschließlich durch eine einzelne Organisation oder Über-Organisation repräsentiert werden kann. (...) Natürlich müssen all diese Zentren zum wechselseitigen Austausch von Information und zu Kooperation ermutigt werden." (Assagioli 2003b, S. 3, Psychosynthese in der Welt) Assagiolis Vision für die Zukunft der Psychosynthese war, dass sie sich nicht in Form eines 'Sonnensystems', sondern in der eines 'Sternbildes' gestalten möge. Dieses Sternbild ist auch in Assagiolis Vision für eine Umgestaltung der sozialen, politischen und ökonomischen Strukturen unserer Welt zu finden: solche Umgestaltung könne weder von oben herab diktiert, aber auch nicht von isolierten Individuen erschaffen werden, sondern von Gruppen von 'spirituell Schaffenden'. Diese Gruppen“, so sagt er, werden neue Qualitäten aufweisen müssen: „Sie müssen frei und flexibel und von universellen Dimensionen sein. Der Zusammenhalt dieser Gruppen wird vor allem ein innerer sein. (...) Dabei muss völlige Freiheit herrschen, was die jeweiligen Konzeptionen, Methoden und Arbeitsbereiche betrifft. Die Vereinigung wird den Charakter einer tiefen Freundschaft, einer spirituellen Bruderschaft haben und nicht den einer äußeren Organisation." (Assagioli 2008, S. 235f) In dieser Sichtweise Assagiolis haben wir uns wiedergefunden.

Wieder zurück zum Aufbau des Psychosynthese Hauses: In den Wartejahren, bis die Ausbildung starten konnte, waren wir von David und Judy eingeladen, an allen Seminaren zu Trainingszwecken teilzunehmen. Wir erhielten ein besonderes Trainers-Training, einzeln und auch gemeinsam im Team, das uns rasch auszubilden sollte, damit das Haus arbeitsfähig würde und bald eigenständig arbeiten könnte und wir so von Davids Kommen unabhängig würden. Immer, wenn David und Judy in Deutschland waren, fanden zahlreiche intensive Planungs- und Organisations-Gespräche statt.

Ab 1988 – also bereits 2 Jahre nach Davids erstem Aufenthalt in Wolfegg - haben wir begonnen, die ersten Grundkurse selbst zu geben. Es war eine fröhliche und enthusiastische Zeit.Und schon in der nächsten Trainingsgruppe nach uns ”Pionieren” lud David uns ein, als Assistenten mitzuarbeiten und unsere verschiedenen Kenntnisse und Fähigkeiten mit in Davids Curriculum einzubringen. So war es eine sehr kreative Schaffenszeit, in der Vieles miteinander entwickelt wurde.

In den ersten Jahren danach haben wir im Psychosynthese Haus die Gestalt übernommen, wie wir es bei David und auch bei Judy gelernt und erlebt hatten. Die Grundkurse sind bis heute in ihrer Struktur ähnlich geblieben, sie gehen auf bewährte Psychosynthese Konzepte zurück. Ihre Inhalte sind inzwischen von uns neu durchdrungen und gestaltet worden. Die Fort- und Weiterbildung hat ganz und gar unsere Handschrift erhalten. Die Basisfortbildung mit ihrem Schwerpunkt der Spirituellen Gruppenarbeit, dem “Corona Prozess”, den wir von Tom Yeomans gelernt haben, ist in der von uns über Jahrzehnte weiter entwickelten Form ein Spezifikum unseres Hauses. Er ist unser Beitrag zum Thema Gruppenentwicklung und zur Erforschung der Frage, wie Individuum und Gemeinschaft sich gleichwertig begegnen und miteinander zu einer Synthese finden können.Es wäre ein riesiges Unterfangen, hier die ganze Geschichte unseres Hauses in allen ihren Facetten berichten zu wollen. Also habe ich mich gefragt: Was ist mir wichtig und was könnte für uns hier wichtig und hilfreich sein, wenn wir miteinander der Frage nachgehen: Und – bereit für Neues?

Wenn ich von heute aus zurückschaue bis zu den Anfängen, kommt mir ganz besonders entgegen, wie offen wir waren! Wie bereit für Neues! Wie freudig wir experimentierten! Wie mutig wir waren zur Neugestaltung! Wie willig zum Anpacken und Mitgestalten! Es herrschte ein Pioniergeist, ein wirklicher Anfängergeist. Wir wollten gesellschaftliche Veränderungen impulsieren und mittragen. Und wir haben das auch getan. Wir alle! Fragt Euch doch einmal, was Ihr bewirkt habt in Eurem Leben, mit Eurem Herzblut, Eurem Eifer und Eurer Mühe? Es spielt keine Rolle, ob es sogenanntes Großes war, oder ob es die kleinen alltäglichen Dinge waren, die für Veränderungen ebenso bedeutsam sind, oder sogar letztlich wesentlicher als die Großen, die Auffälligen, die weithin Sichtbaren. Denn es sind die alltäglichen Dinge, die das Leben tragen.

Die Suche unserer Generation nach einer neuen, innerlichen Spiritualität, brachte eine große Offenheit mit sich: Die Suche nahm vielgestaltige Formen an und das Experimentieren hatte auch wilde und ausufernde Seiten. Esoterisches, Magisches und Spirituelles war weithin noch ganz ungetrennt, in fröhlicher, unbeschwerter Komplizenschaft. Es gab wenig Differenzierung, kaum Verständnis der unterschiedlichen Ebenen und Dimensionen. Die Höhenpsychologie war in ihren Anfängen von einer sogartigen Faszination! Sie war deshalb auch mit einer Idealisierung der „Höhe“ und oft einer Abwertung der “Tiefe” verbunden. Viele verloren dabei den Boden unter den Füßen, es war auch eine Zeit der Spaltungen zwischen “oben” und “unten”.

Hier war die Psychosynthese ein sehr hilfreiches Modell. Assagioli konnte durch seine profunde Kenntnis verschiedener spiritueller Schulungswege und Weisheitstraditionen klare Orientierung geben mit dem komplexen, mehrdimensionalen Menschenbild der Psychosynthese.

Die Zeit des fröhlichen Experimentierens ging auch dadurch allmählich ihrem Ende entgegen, dass schmerzlich erfahren wurde, dass mit den Energien des Höheren Unbewussten nicht zu spaßen ist, dass dort gewaltige Kräfte wohnen - in uns allen wohnen! - Kräfte, mit denen ein achtsamer Umgang gepflegt werden will, Kräfte, die respektiert und ans Ich angebunden werden müssen, wenn sie keinen Schaden anrichten, sondern dem Leben dienen sollen. Wir haben eindrückliche eigene Erfahrungen gemacht – und solche mit anderen Menschen, die in spirituellen Krisen den Boden unter den Füßen verloren hatten. Erfahrungen mit Menschen, die in Workshops und Seminaren durch leichtfertigen Umgang mit Bewusstseins-Techniken, wie z.B. solchen zur Öffnung des 3. Auges, in schwerste psychische Krisen gerieten, und die dann zu uns kamen und nach Hilfe suchten. Wir haben die Höhen und die Tiefen der Seelenlandschaften ausgelotet, und erkundet und haben uns mit ihnen vertraut gemacht. So sind wir mit den Jahren zu kundigen Weg- und Bergführern geworden.

Wir hatten im Psychosynthese Haus übrigens von Beginn an das Herzensanliegen, eine Psychosynthese zu vermitteln, die das Oben und das Unten nicht voneinander spaltet, einer Spiritualität zu folgen, die unser wirkliches, alltägliches Leben meint und die nicht in andere Regionen, die als höherwertig betrachtet werden, auswandern will. Eine Spiritualität, die unser ganzes Menschsein, unser lebendiges – auch körperliches – Dasein auf dieser Erde meint und dieses vertiefen, durchdringen und durchlichten will.

Mit uns waren auch andere unterwegs, die mit ihrer persönlichen Forschungsarbeit die Seelenwege begingen. Das neue Feld, das sich lockend, weit und zunächst ganz unüberschaubar vor uns allen aufgetan hatte, wurde bekannter, begehbarer, Landkarten wurden erstellt und Wege gebahnt. So konnte sich allmählich eine ganzheitliche und integrierte Sichtweise ausbreiten, die Orientierung geben konnte; eine wissenschaftliche Erforschung des transpersonalen Bewusstseinsraumes begann sich zu etablieren.

In dieser Arbeit waren wir mittendrin dabei über unsere Vernetzung mit vielen anderen: Wir waren vertreten bei den ersten großen, internationalen Kongressen des SEN, des Spiritual Emergence Network Deutschland in Todtmoos-Rütte. Von allem Anfang an, nämlich seit 1995, waren wir auf den Heiligenfelder Kongressen mit der Psychosynthese dabei. Wir brachten sie ein auf den Jahrestagungen der Jean Gebser Gesellschaft in Bern und bei jenen der Internationalen Gesellschaft für Tiefenpsychologie in Lindau. Und natürlich warenwir auch auf fast allen internationalen Psychosynthese Kongressen seit 1988 vertreten.

Ebenfalls von Anfang an war ich von Joachim Galuska eingeladen in der Schriftleitung der “Zeitschrift für transpersonale Psychologie und Psychotherapie” mitzuarbeiten, sie mit aufzubauen und zu prägen. Diese Zeitschrift war in den vergangenen 20 Jahren im deutschsprachigen Raum maßgeblich an der Theoriebildung im Transpersonalen Bereich beteiligt. In dieser Zeitschrift, herausgegeben von Edith Zundel und Joachim Galuska, wurde der Dialog mit bekannten Theoretikern der Transpersonalen Psychotherapie geführt, z.B. mit Ken Wilber, Stan Grof, Arnold Mindell, Roger Walsh und Williges Jäger, mit Hans Peter Dürr und Wolf Büntig, mit Michael von Brück und Annemarie Schimmel, – um nur einige bekannte Namen zu nennen.

Nach den inspirierten Anfangsjahren waren wir also in eine lange andauernde Phase eingetreten, in der die Ärmel hochgekrempelt und ernsthaft und auch ausdauernd gearbeitet werden musste. Die Werkzeuge der Psychosynthese mussten aufgegriffen, erprobt, geschliffen und weiter differenziert und verfeinert, und auch neue gefunden und dazu gefügt werden - denn Assagioli hatte ja dazu aufgerufen, die Psychosynthese weiter zu entwickeln; er hatte sie nie als fertig betrachtet.

Mannigfaltige neue Werkzeuge sind inzwischen dazu gekommen - von Vielen erarbeitet. Sie stehen zur Verfügung. Das Wissen der spirituellen Wege und der transpersonalen Psychotherapie hat sich seither viel weiter mit der modernen Psychologie und Psychotherapie verbunden, als wir das oft wahrnehmen und als wir das damals geglaubt hätten. In kassenanerkannte Psychotherapien unterschiedlicher Schulen, in Beratung und in klinische Settings, in Coaching, Gruppen- und Teamarbeit, in Organisationsentwicklung, Schule und Erwachsenenbildung haben viele unserer Konzepte und Methoden Einzug gehalten. Z.B. ist ein komplexes, mehrdimensionales Menschenbild weithin gesellschaftsfähig geworden, Teilpersönlichkeiten sind überall bekannt. Ressourcenorientierung ist in aller Munde. Die Schulung von Achtsamkeit, die Erfahrung und Entwicklung des Inneren Beobachters sind in Theorie und Praxis eingewandert. Assagiolis Konzept der Disidentifikation ist weithin bekannt und wird praktiziert.

Natürlich hat das auch eine Kehrseite. Bei dieser Eingemeindung ist manches auch verloren gegangen oder kurzerhand verzweckt worden. So wird beispielsweise Meditation oft als Entspannungstechnik genutzt und so ihrer eigentlichen geistigen Ausrichtung beraubt. Die Einverleibung dessen, was zunächst grenzüberschreitende Kraft hatte, bringt auch mit sich, dass der ursprüngliche Atem der Radikalität, der es einmal beseelt hat, abflacht.

Die Zeiten der Anfänge, die ich hier zusammenfassend berichtet habe, sind heute Geschichte. Was ist aus der Aufbruchsstimmung geworden? Aus dem Anfängergeist? Was haben wir heute vor? Was sind die Aufgaben, die auf uns warten?

Assagioli hatte gesagt, dass „die Menschheit als Ganzes sich nicht nur inmitten einer ökonomischen, sozialen und politischen Krise befindet, sondern auch in einem tiefgreifenden und mühsamen spirituellen Übergang...“. Er ruft dazu auf, „die drängenden Aufgaben der Stunde zu erkennen, so dass wir uns mit Entschlossenheit dran machen können, sie zu bewältigen“. (2008, S. 212)

Assagiolis Sternbild: Eine Vernetzung und Zusammenarbeit in Freiheit wollen wir auch hier als Zukunftsbild aufrufen: “Die Vereinigung wird den Charakter einer tiefen Freundschaft, einer spirituellen Bruderschaft habe,...” (ebd.). Wie wäre das, wenn immer mehr neue Sterne aufgehen und kleine und größere Lichter erstrahlen lassen. Sterne, die aus der Psychosynthese heraus aufgehen und auch aus anderen Schulen, oder Strömungen, die dem gleichen großen Ziel der Synthese folgen?

Was für ein Stern willst du sein? Welche Qualität willst du in die Welt senden? Mit wem willst du dich verbinden und vernetzen um vielleicht Teil eines größeren Sternbildes zu werden, das weiter hin ausstrahlen kann?

Seit unseren Anfängen ist die Spanne einer ganzen Generation vergangen. Unsere Kinder sind heute so alt, wie wir damals waren. Unsere Enkelkinder sind jetzt in dem Alter, das damals unsere Kinder hatten. Und wir sind heute älter als David war, als er uns mit der Inspiration der Psychosynthese angesteckt hat. Als David nach Deutschland kam, war er 60 Jahre alt.

So schließt sich ja vielleicht ein Kreis. Wen haben wir anzünden, an wen die Inspiration weitergeben können? Die Inspiration der Psychosynthese? Die Inspiration der Arbeit an der Synthese auf allen Ebenen, wie Assagioli betont. Wer trägt sie weiter?

Denken wir noch einmal an Assagiolis Bild von Vernetzung und Zusammenarbeit in vollkommener Freiheit, an sein Bild des Sternenhimmels: Stell dir vor, wie immer mehr neue Sterne aufgehen und kleine und größere Lichter erstrahlen lassen. Während alte Sterne verlöschen, verglühen – deren Licht noch lange auf der Erde sichtbar ist und weiter ausstrahlt – sieht du weitere, neue Sterne aufscheinen. Kannst du alle die zahlreichen Sterne wahrnehmen, große und kleine? Aufscheinend und vergehend? Strahlend und funkelnd? Sternbilder und Milchstraßen? Kannst du in die Tiefe des Universums hinein schauen, und eine Ahnung bekommen von all den Sternen, von denen jeder einzelne seinen Platz in der Unendlichkeit des Alls hat? Kannst du beides gleichzeitig wahrnehmen: Den ganzen Kosmos und jeden einzelnen Stern darinnen mit seiner ganz eigenen, unersetzlichen Bedeutung? Stell dir das vor….

Wie siehst du dich in diesem Bild? Wo könnte dein Platz in diesem Sternenhimmel sein? Was für ein Stern willst du sein? Welche Qualität willst du in die Welt senden? Mit wem willst du dich verbinden und vernetzen, um Teil eines größeren Sternbildes zu werden, das heller und weiterhin ausstrahlen kann?
Und – bereit für Neues?

*Das Psychosynthese Haus Allgäu Bodensee wurde bis Mai 2017 von vier Teammitgliedern getragen: Ulla Pfluger-Heist, Dipl.Päd, HP Psychotherapie; Gertraud Reichert, Dipl.Soz.Arb. FH; Karl Heinz Reichert, Sozialtherapeut (analyt. orientiert), Karl Winter, Dipl. Psych., Psychol. Psychotherapeut. Ende Mai 2017 ist Kral Winter ausgeschieden und in den Ruhestand getreten.

Literatur
Assagioli, R. (2003b): Vorbereitung für den Dienst, in: Psychosynthese, Zeitschrift, 5.Jg., Heft 8, 27 Assagioli R. Handbuch der Psychosynthese. Grundlagen, Methoden, Techniken. Rümlang/ZH: Nawo 2004 Assagioli R. Psychosynthese und transpersonale Entwicklung. Rümlang/ZH: Nawo 2008


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