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Gedanken zur Corona-Krise

There is no security, only adventure.“
Es gibt keine Sicherheit, nur Abenteuer.

Roberto Assagioli

Als mein Psychosynthese-Lehrer David Bach 1986 nach Wolfegg gekommen war, um die Psychosynthese nach Deutschland zu bringen, sprach er in einem seiner ersten Seminare davon, dass das chinesische Zeichen für „Krise“ auch gleichzeitig „Chance“ bedeutet. Das ist heute weithin bekannt. Damals hat es mich geradezu elektrisiert.

Jetzt sind wir in einer weltumspannenden Krise angekommen und mehr denn je brauchen wir diesen Gedanken, um uns daran zu orientieren. Jetzt wird es sich zeigen, ob wir ihn so tief verstanden haben, dass er uns tragen kann. Können wir die Balance halten zwischen der Sorge, die wir haben, dem Leid, das geschieht und dem Verzicht und den Verlusten, die wir erleiden einerseits und dem, was sich gleichzeitig eröffnet? Können wir wahrnehmen, wie Zeitfenster aufgehen, Hilfsbereitschaft erwächst, wie die Umwelt aufatmet und Einsichtskraft bei vielen Menschen erweckt wird?

Können wir diese Krise als eine Chance sehen und ergreifen, Wesentliches zu verändern, das bislang ganz unveränderbar erschien?

Zu dieser Krise, die unser aller Leben jetzt auf den Kopf gestellt hat, schreibe ich hier ein paar Zeilen aus der Sicht der Psychosynthese. Die Nachrichten, die uns darüber erreichen, sind vielfältig. Die Ansichten, die dazu geäußert werden, ebenfalls und dazu oft noch ganz widersprüchlich. Wie können wir darin Orientierung finden?

Zuerst war Corona eine Nachricht aus der Ferne, die uns nicht zu betreffen schien – China erscheint uns immer noch sehr weit weg zu sein. Wie nah die Welt in Zeiten der Globalisierung zusammen gerückt ist, haben wir inzwischen schmerzhaft erfahren. Auf einmal war das Virus da und hat uns überrollt: Italien, Spanien, auch Deutschland, ganz Europa, Amerika - weiter und weiter über den Erdball.

Wie sollten wir das verstehen? Was sollten wir glauben von den Nachrichten, die so ganz und gar unglaublich waren? Wie ernst wollen oder müssen wir das nehmen? Inzwischen hat das Virus aber - ohne dass es allen, nicht einmal den meisten Menschen gefährlich wird -  seine Krallen weltweit gezeigt und drohte an verschiedenen Orten die Gesundheitssysteme zum Kollabieren zu bringen.

Die Nachrichten, die durch die Welt, vor allem aber jene, die durchs Netz gehen, sind alles andere als konsistent. Das kann sehr verwirrend sein für unsere Gefühlswelt: Wenn unsere Gefühle überborden, übernehmen unsere berechtigten Sorgen und Ängste die Führung und wir lassen uns von ihnen beherrschen. Oder aber wir schieben solche Gefühle beiseite und neigen zu Verharmlosung oder Verleugnung im Sinne von „dass nicht sein kann, was nicht sein darf“.

Es geht jedoch nicht darum, zu glauben, was gesagt und was geschrieben wird. Dieses Virus und das, was es gerade weltweit anrichtet, ist neu. Wir lernen es gerade erst kennen; es wird dauern, bis wir es wirklich verstehen und einordnen können.

Deshalb ist hier besonders an die Guideline zu denken, mit der wir seit Jahrzehnten arbeiten: Unbekanntes willkommen heißen. Unbekanntes willkommen heißen bedeutet natürlich nicht, naiv und sorglos auf Neues zuzugehen, sondern ruft dazu auf, Neuem mit Offenheit und mit Unvoreingenommenheit zu begegnen. Das ist nicht leicht. Denn Neues macht Angst. Mit Gewohntem haben wir schon umzugehen gelernt; damit fühlen wir uns sicherer. Neuem gegenüber gilt es, loszulassen „wie es immer war“ und wie wir glauben, dass es sein müsste; es gilt dem, was ist, mit offenen Sinnen und offenem Herzen gegenüberzutreten.

Dann folgt ein nächster Schritt. "Prüfet alles, das Gute aber behaltet", heißt es beim Apostel Paulus. Und der Buddha sagt, wir sollen gar nichts glauben, nicht einmal das, was er selbst sagt, stattdessen rät er uns, es sorgsam zu prüfen und zu unseren eigenen Schlüssen zu kommen, indem wir auf unsere Erfahrung hören und ihr vertrauen. Auf unsere Erfahrung hören: Ist im Wort ‚Er-fahren‘ nicht eigentlich enthalten, dass wir uns bewegen, dass wir „dorthin fahren“ und mit eigenen Augen sehen und mit eigenen Ohren hören sollen, was geschieht und mit welcher Realität wir es zu tun haben? Die Realität der Pandemie können viele von uns nur über Nachrichten überprüfen, wir haben – noch - nicht direkt damit zu tun. Wenn wir „dorthin“ fahren wollen, müssen wir uns die Informationen darüber zugänglich machen, die verfügbar sind.

Da stoßen wir auf ein nächstes Problem. Die Informationen sind vielfältig, oft nicht übereinstimmend, sogar widersprüchlich. Wie können wir also prüfen, wie Paulus und wie der Buddha uns rät?

Unsere Gefühle sind dabei wenig hilfreich, sie können diese ‚unglaublichen‘ Neuigkeiten nicht einordnen, sie sind davon überfordert, oft überwältigt. Die Ungeheuerlichkeit des aktuellen Geschehens übersteigt alles, was wir bisher kannten und ruft vielerlei Abwehrmechanismen auf, die diese Realität nicht anerkennen wollen, sie ist zu unerträglich. Im emotionalen Spektrum zwischen Verharmlosung und Verleugnung einerseits bis hin zu Panikmache und Hysterie andererseits wird unsere Realitätsprüfung behindert.

Das Prüfen ist aber keine emotionale, sondern eine kognitive Funktion, hier gilt es, den Verstand einzusetzen, um die Informationen zu ordnen und abzuwägen. Wenn wir die Flut von Nachrichten sortieren und prüfen wollen, ist es deshalb nötig, dass wir uns von den Gefühlen, die diese Nachrichten hervorrufen, disidentifizieren: Ich habe Gefühle - und ich bin mehr als meine Gefühle... 

Die Prüfung ist eine rationale Angelegenheit, sie benötigt die Denkfunktion. Wir leben in einer höchst komplexen Welt; das ist schon herausfordernd genug. Dazu gesellen sich dann noch vielerlei Fake-News und schillerndstes populistisches Gedankengut; all das will und muss bewertet werden - keine leichte Aufgabe. Aber eine Aufgabe, die zunehmend von uns gefordert ist, wenn wir uns nicht nur in dieser verrückten Welt bewegen und uns aus dem SELBST heraus steuern, sondern in dieser vielfältigen und zerrissenen Welt auf lebensfreundliche Weise wirksam sein wollen.

Rational zu prüfen bedeutet zum Beispiel, einen fundierten Umgang mit Nachrichtenquellen zu lernen: Wie kann ich eine Nachricht auf ihren Wahrheitsgehalt prüfen? Von wem stammt sie? Kann man dieser Quelle vertrauen? Woher weiß ich, dass ich ihr trauen kann? Was sagen und schreiben andere dazu? Welche anderen Quellen, die vertrauenswürdig sind, kann ich noch heranziehen? Wie kann ich das alles so zusammensetzen, dass ein konsistentes, stimmiges Bild daraus wird? Und wie kann ich gleichzeitig meinen Geist so offenhalten, dass ich mein Bild korrigieren kann, wenn neue Informationen das nötig machen? Das erfordert Achtsamkeit, Mühe, Sorgfalt und eine höchst nüchterne Sichtweise.

In einem weiteren Schritt können wir uns einer übergeordneten Dimension in uns zuwenden und sie aufrufen, eine Dimension, in der wir uns versammeln und aus der heraus wir einen anderen, größeren Blickwinkel einnehmen können. Sie macht unsere Mühe des Denkens und Sortierens und des Ordnens unserer Gefühle nicht überflüssig. Ganz im Gegenteil, sie wächst daraus hervor – unsere aktive, lebendige Präsenz, der innere Beobachter, der "Wachheitsstern", das Selbst.

Setze dich bequem hin und entspanne dich.

Werde dir deines Körpers bewusst. Wie geht es deinem Körper in diesem Augenblick? Welche Empfindungen kannst du wahrnehmen? Spürst du den Kontakt der Füße zum Boden... den Kontakt des Körpers zum Stuhl? Spürst du die Bewegung des Atems? Jetzt mache dir bewusst, wie dein Körper vor einigen Jahren anders war als heute. Du hast ihn anders empfunden. Mache Dir auch bewusst, dass dein Körper sich weiter verändern wird im Gang der Zeit…. Dein Körper ändert sich von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde, von Augenblick zu Augenblick. Manchmal fühlt er sich energiegeladen und wach, ein anderes Mal fühlst du Schmerzen oder bist müde. Frage dich, während du dir deines Körpers bewusst bist: Wer ist sich seines Körpers bewusst? Wer hat einen Körper?

Lausche dieser Frage nach und lasse dich von ihr innerlich führen…

Nun wende dich deinen Gefühlen zu. Was fühlst du gerade? Mache dir bewusst, dass auch deine Gefühle sich ständig ändern: Einmal sind sie fröhlich, dann traurig, dann wieder voller Zorn. Sie wechseln zwischen verschiedenen Zuständen, manchmal innerhalb von Sekunden. Welche Gefühle hast du heute schon durchlebt? Welche würdest du gerne heute noch erleben? Während du dir deiner Gefühle bewusst wirst, frage dich: Wer ist sich seiner Gefühle bewusst? Wer hat Gefühle?

Lausche der Frage nach und lasse dich von ihr innerlich führen…

Nun mache dir deine Gedanken bewusst. Was denkst du gerade jetzt? Vielleicht denkst du über Sinn oder Unsinn dieser Übung nach? Hast du schon einmal beobachtet, wie schnell deine Gedanken ihre eigenen Wege gehen, wenn du dich auf etwas Bestimmtes konzentrieren willst, wenn du zum Beispiel meditieren und innerlich still werden willst? Manchmal ist dein Denken klar und zielgerichtet, manchmal chaotisch und verwirrt... Vor einigen Jahren hast du über vieles anders gedacht als heute und in einigen Jahren wird sich dein Denken wieder verändert haben. Auch dein Geist ändert sich... Frage dich: Wer hat Gedanken? Wer ist sich bewusst?

Lausche der Frage nach und lasse dich von ihr innerlich führen…

Jetzt lasse dich tiefer in dieses: "Wer ist sich bewusst?" hineinsinken. Erlebe diesen Punkt, diesen Ort, diesen Zustand der Bewusstheit. Bleibe dabei und erlaube diesem Erleben sich zu vertiefen und sich auszubreiten...

Kannst du dich als ein Wesen erkennen, das einen Körper besitzt, Gefühle und Geist? Wie ist es, das eine zu sein, das gleich bleibt, sich nicht ändert innerhalb der Wechselhaftigkeit des Lebens? Das größer ist als Körper, Gefühle, Geist? Wie ist es, das zu sein, das darüber hinausreicht?

Lass dich das erleben...


In diesem Sinne wünsche ich uns allen viel SELBST-Erfahrung in diesen Tagen, die uns herausfordern und anfragen, wie wir damit umgehen können, dass unser Leben auf einmal komplett auf den Kopf gestellt wird, ohne dass wir darum gebeten hätten; die uns daran erinnern, dass es keine Sicherheit gibt, nur Abenteuer.




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