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Die Entwicklung der Psychosynthese und der Transpersonalen Psychologie und Psychotherapie in Deutschland
Anhang zur Neuherausgabe: Handbuch der Psychosynthese (S. 277 – 280)

Im deutschsprachigen Raum und in Europa konnte eine starke alte philosophische und christlich-mystische Tradition den Boden für eine Transpersonale Psychotherapie bereiten, auf dem sie gedeihen konnte. Sie wuchs von Anfang an abseits des "Mainstream" und wurde in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts durch die jungen Impulse aus USA neu belebt. 1985 wurde die Deutsche Transpersonale Gesellschaft gegründet, zunächst noch eine sehr kleine Gruppierung.

1989, ein Jahr nach dem Erscheinen von Assagiolis "Handbuch der Psychosynthese" in deutscher Sprache bei Aurum, gaben Edith Zundel und Bernd Fittkau einen Übersichtsband heraus mit dem Titel "Spirituelle Wege und transpersonale Psychotherapie". In der Einleitung zu diesem Buch formulierte Edith Zundel erstmals, dass eine Transpersonale Psychotherapie Brücke sein könnte zwischen den wissenschaftlich orientierten, der Aufklärung verpflichteten Ansätzen der Psychologie und Psychotherapie und den spirituellen Wegen und der "philosophia perennis" (Leibniz), der "Religion hinter den Religionen" (Schiller), von der die verblüffend ähnlichen Erfahrungen der Mystiker in aller Welt zeugen.

In den 80er Jahren war die Psychosynthese in Deutschland noch ganz unbekannt. 1986 kam David Bach vom Berkshire Center of Psychosynthesis zum ersten Mal nach Wolfegg im Allgäu. Dr. Ursula Reincke hatte ihn eingeladen, dort die erste Ausbildung in Therapeutischer Psychosynthese in Deutschland aufzubauen. Seither wurden die Ausbildungsgruppen in Therapeutischer und später dann auch Pädagogischer Psychosynthese in Zweijahres-Rhythmus im Psychosynthese Haus durchgeführt. Inzwischen gibt es einige Psychosynthese Institute in Deutschland, von denen mehrere auch Ausbildungen anbieten. Auch im weiteren deutschsprachigen Raum konnte die Psychosynthese seither an Boden gewinnen.

Nicht nur die Psychosynthese, auch die Transpersonale Bewegung als Ganzes breitete sich in den 90er Jahren zusehends aus. Seit 1990 gibt es die von Dr. Joachim Galuska aufgebaute Fachklinik Heiligenfeld in Bad Kissingen, die die Vision einer qualitativ hochwertigen und ganzheitlichen Konzeption stationärer Psychotherapie, in der die spirituelle Dimension Raum hat, verwirklicht. Auch die Cadueceus Klinik in Bad Bevensen führt in der Aufzählung ihrer Indikationen "spirituelle Krisen" auf und bietet Meditation an. Solche spirituelle Orientierung im klinischen Bereich konnte auf dem Fundament aufbauen, das von anderen errichtet worden war, z.B. von Dr. Walter Lechler in der Klinik Bad Herrenalb und von Dr. Conrad Stauss, der als Schüler Lechlers das Bad Herrenalber Modell seit 1979 in der Psychosomatischen Klinik Bad Grönenbach umgesetzt und weiterentwickelt hatte: Ein ganzheitsmedizinisches Konzept verbindet dabei die Prinzipien der Humanistischen Psychologie mit der spirituellen Ausrichtung des 12-Schritte-Programmes. Dass sich die Fachklinik Heiligenfeld innerhalb der inzwischen schwierig gewordenen Bedingungen des Gesundheitswesens nicht nur behaupten, sondern sogar zunehmend vergrößern konnte, deutet vielleicht darauf hin, dass in einer Zeit, in der viele Kliniken um Patienten kämpfen müssen, eine große Nachfrage nach Therapien besteht, die dem Spirituellen einen angemessenen Platz in einem fundierten therapeutischen Konzept einräumen.

1993 wurde das SEN Deutschland (Spiritual Emergence Network), Netzwerk spiritueller Krisenbegleitung ins Leben gerufen. Das SEN ist inspiriert vom amerikanischen Netzwerk gleichen Namens, das Stanislav und Christina Grof gegründet hatten. Das Netzwerk hilft Menschen in spirituellen Krisen eine angemessene therapeutische Begleitung zu finden, so dass die spirituelle Entwicklung nicht in einer herkömmlichen Behandlung untergeht; denn dass der spirituelle Gehalt der Krise 'wegtherapiert' werden sollte, war die schmerzliche Erfahrung vieler gewesen und die spirituelle Krisenintervention war Impulsgeber und zentrales Herzstück der jungen Transpersonalen Bewegung.

Die erste große Tagung des SEN fand 1994 in Zusammenarbeit mit der Fachklinik Heiligenfeld in Bad Kissingen statt. Der Zustrom der TeilnehmerInnen war unerwartet groß, eine starke Ermutigung für weitere Tagungen dieser Art. In Todtmoos folgte 1996 in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Initiatische Therapie, Rütte ein Kongress des SEN auf internationaler Ebene, der ebenfalls viele Menschen anziehen konnte. In Todtmoos gibt es seither weitere Tagungen im zweijährigen Rhythmus. Eine Tagung in Bad Kissingen mit dem Titel 'Spirituelle und transpersonale Dimensionen in der Psychotherapie' 2002 übte bereits eine so enorme Anziehungskraft aus, dass die Teilnahmeliste bei über tausend Menschen geschlossen werden musste, ein deutliches Zeichen für das aktuelle Erstarken der Transpersonalen Bewegung.

Besonders beigetragen zum fachlichen Austausch und zur fundierten Theoriebildung im transpersonalen Bereich hat sicherlich die Zeitschrift "Transpersonale Psychologie und Psychotherapie", die seit 1995 von Edith Zundel und Joachim Galuska herausgegeben wurde und die sich schnell einen beachtlichen Leserkreis erobern konnte. Das Interesse an diesen Themen ist groß und die Transpersonale Psychotherapie kann sich zunehmend theoretisch fundieren, mit vorhandenen Wissensgebieten verknüpfen und über eine wachsende Zahl von Studien empirisch absichern. 1999 wurde das Deutsche Kollegium für Transpersonale Psychologie und Psychotherapie (DKPT) gegründet. Die DKPT hat zum Ziel "die Entwicklung der Transpersonalen Bewegung im deutschen Sprachraum aufzugreifen, an den Hochschulen durch Forschung und Lehre präsent zu halten und akademisch zu durchdringen und zu integrieren." Sie "fördert die interdisziplinäre Zusammenarbeit von WissenschaftlerInnen und ForscherInnen. Der Verein vertritt die Belange der transpersonalen Psychologie und Psychotherapie in Lehre, Forschung und Weiterbildung an Hochschulen und vergleichbaren wissenschaftlichen Einrichtungen". (Belschner u.a. 2002, Anhang) Die Bemühungen um eine "hohe Qualität der wissenschaftlichen Kultur der Transpersonalen Psychologie und Psychotherapie" (Galuska) werden inzwischen von Praktikern, Wissenschaftlern und Forschern an vielen Orten und in vielen Bereichen getragen und weiterentwickelt.

Die meisten transpersonal orientierten Psychotherapeuten sind heute eher integrativ eingestellt und verstehen das Einbeziehen einer spirituellen Dimension nicht als eigenständiges Verfahren, sondern als Erweiterung eines integrativen und integralen Konzeptes von Psychotherapie. Es gibt eine große Fülle von Daten, die belegen können, dass die transpersonale Dimension Wichtiges und Bedeutsames beizutragen hat für Psychotherapie, Pädagogik und zahlreiche andere Fachgebiete, besonders aber auch für das Leben der Menschen überhaupt - um was es ja letztendlich eigentlich geht. Trotz fehlender Anerkennung von Seiten des 'Mainstream' als wissenschaftlich anerkanntes Verfahren ist die Transpersonale Psychologie und Psychotherapie in Deutschland eine wahrhaft blühende Wiese geworden. Sie hat sich seither so entwickelt, dass heute bedeutende Anstöße und Inspirationen für Psychologie und Psychotherapie überhaupt von ihr ausgehen.

Vielleicht ist aber gerade auch diese fehlende Anerkennung eine Bedingung für ihre lebendige Entwicklung außerhalb instititioneller Einpassung und Begrenzung. Auf diese Weise kann sie ihre vorwärtsdrängende Kraft des "spirituellen Empowerment" (Wilfried Belschner) im 'Anfängergeist' entfalten, der dem Spirituellen ganz anders angemessen ist als festgeronnene institutionelle Formen.

Aus eben diesem Grund hat Roberto Assagioli mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass die Psychosynthese im Geiste eines neuen Paradigmas aufgebaut und gestaltet werden muss, wenn sie den eigentlichen Kern ihrer Botschaft auch in ihrer äußeren Form verkörpern und damit wirklich in die Welt hinaustragen will. Für die Psychosynthese formulierte er: "Es gibt keine Orthodoxie in der Psychosynthese, und niemand, bei mir selbst angefangen, kann in Anspruch nehmen, ihr wahrer Repräsentant, Kopf oder Führer zu sein. (...) Wenn wir von dieser allgemeinen Annahme ausgehen, dann ist einleuchtend, dass Psychosynthese nicht ausschließlich durch eine einzelne Organisation oder Über-Organisation repräsentiert werden kann. (...) Natürlich müssen all diese Zentren zum wechselseitigen Austausch von Information und zu Kooperation ermutigt werden." (Assagioli 2003b, S. 3) Assagiolis Vision für die Zukunft der Psychosynthese war, dass sie sich nicht in Form eines 'Sonnensystems', sondern in der eines 'Sternbildes' gestalten möge. Dieses Sternbild ist auch in Assagiolis Vision für eine Umgestaltung der sozialen, politischen und ökonomischen Strukturen unserer Welt zu finden: Eine solche Umgestaltung könne nicht von isolierten Individuen durchgeführt werden, sondern von "Gruppen von 'spirituell Schaffenden'. Diese Gruppen werden neue Qualitäten aufweisen müssen: Sie müssen frei und flexibel und von universellen Dimensionen sein. Der Zusammenhalt dieser Gruppen wird vor allem ein innerer sein. Er wird bestehen in dem gemeinsamen Verständnis, dem gemeinsamen Eifer und dem gemeinsamen Impuls, der Menschheit zu dienen. Dabei muss völlige Freiheit herrschen, was die jeweiligen Konzeptionen, Methoden und Arbeitsbereiche betrifft. Die Vereinigung wird den Charakter einer tiefen Freundschaft, einer spirituellen Bruderschaft haben und nicht den einer äußeren Organisation." (Assagioli 1992, S. 235f)

Dieses Bild passt sehr gut zur aktuellen Gestalt der Transpersonalen Psychologie und Psychotherapie in Deutschland. Eine Gestalt, die Assagioli für wünschenswert und zukunftsfähig hielt. Vielleicht bringt uns gerade die fehlende Anerkennung dazu, eine solche neue Kultur der Gleichen unter Gleichen in Freiheit zu entwickeln? Einer Freiheit, die Form gewinnt in der Gemeinsamkeit einer größeren Zielsetzung, die wir miteinander teilen, und der wir uns frei-willig unterstellen.

Wie auch immer: Inmitten dieser wachsenden, bunten und lebendigen Bewegung Transpersonaler Orientierung ist Roberto Assagioli und die Psychosynthese heute ganz selbstverständlich vertreten, eine erstaunliche und ermutigende Tatsache, wenn man bedenkt, dass noch in den 80er Jahren kaum jemand etwas darüber wusste und die übliche Rückfrage lautete: Was ist das, Psychosynthese? Heute dagegen sind Roberto Assagiolis Schriften in den meisten Literaturlisten der Veröffentlichungen auf diesem Gebiet zu finden. Sein Name ist auf den Kongressen Transpersonaler Psychologie und Psychotherapie ganz geläufig, die Psychosynthese war mit Vorträgen und Workshops auf den Schulen übergreifenden, oben erwähnten Tagungen vertreten und sie findet heute die Würdigung als eine der europäischen Wurzeln der Bewegung, die ihr zukommt.

Literatur:
Assagioli, R. (1987): Handbuch der Psychosynthesis, Aurum, Freiburg.
Assagioli, R. (1992): Psychosynthese und transpersonale Entwicklung, Junfermann, Paderborn
Assagioli, R. (2003): Einheit in der Vielfalt. Zeitschrift für Psychosynthese 8,
Nawo-Verlag, Rümlang.
Assagioli, R. (2003b): Psychosynthese in der Welt, Zeitschrift für Psychosynthese 9, Nawo-Verlag, Rümlang.
Belschner,W, Gottwald, P., (Hrsg.): Transpersonale Studien, Band 1-8, Bis, Universität Oldenburg.
Galuska, J. (Hrsg.) (2004): Den Horizont erweitern
Galuska, J., Zundel,E. (Hrsg.), Transpersonale Psychologie und Psychotherapie, Jahrgang 1 – 10. Via Nova, Petersberg
Ruschmann, E. (Hrsg.) (1983):Die Begründung der Transpersonalen Psychotherapie. Schriftenreihe zur Transpersonalen Psychologie, Bd 1, GTP Verlag, Freiburg i.Br.
Walsh, R. (1995): Die Transpersonale Bewegung. Geschichte und derzeitiger Entwicklungsstand. Transpersonale Psychologie und Psychotherapie 1, 6-21.
Winter, K. ((2002): Roberto Assagioli - Pionier der Transpersonalen Psychologie und Psychotherapie. Zeitschrift für Psychosynthese 6, 3–7.
Zundel,E., Loomans, P. , Hrsg.,(1994): Psychotherapie und Spirituelle Erfahrung. Herder, Freiburg, Basel, Wien.

Vogt, August 2003 Ulla Pfluger-Heist





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