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Vorwort zur deutschen Ausgabe von Holy Fire
Ulla Pfluger-Heist

Der Geist ist kein Gefäß zum Füllen, sondern ein zu entfachendes Feuer.
                                                                                                     Plutarch


Holy Fire, Heiliges Feuer hat Thomas Yeomans sein Buch über das Erwachen der Seele genannt. Diese Metapher verweist auf sein Verständnis von Seele, um das er in seinem Leben eindrucksvoll gerungen und das ihn auf seinen ganz persönlichen Weg der Spirituellen Psychologie geführt hat.

Das Erwachen der Seele im Untertitel benennt, dass es Tom ein Anliegen ist, den Seelenbegriff wieder in der Psychologie zu verankern, aus der er immer mehr zu verschwinden droht. Er wird nicht nur durch Begriffe wie „Psyche“ oder „Selbst“ ersetzt, sondern häufig auf hirnorganische Prozesse reduziert. Die innerste Lebendigkeit, die essenzielle Lebenskraft, das Heilige Feuer drohen uns verloren zu gehen. Der Seelenverlust, den Tom im Buch als spirituelles Verhungern auf individueller Ebene beschreibt, zeigt sich auf kollektiver Ebene auch in solchen Begriffsbildungen, die sich auf unser Menschenbild unmittelbar auswirken. Bei Tom ist der Seelenbegriff hingegen elementar für sein Verständnis vom Menschsein, von unserer Menschwerdung und von den Prozessen, die zu vollständiger menschlicher Reife führen wollen.

Als zutiefst seelenkundigem Wegführer kann man sich diesem Buch in unserer Umbruchzeit des Übergangs von einem Bewusstseinstag zum nächsten - in der eine neue Bewusstseinsstruktur erwachsen will und muss - getrost anvertrauen. Wir stehen noch mitten in der Entwicklung vom rational-mentalen hin zum integralen Bewusstsein. Ein heikles Unterfangen! Das können wir an all den unlösbar scheinenden Themen sehen, die die Welt in dieser Zeit beschäftigen und bedrohen. Unser Bewusstsein will ja nicht nur im Umfang wachsen, sondern sich auch wandeln auf unvorhersehbare, überraschende und schöpferische Weise. Das löst unsere bisherigen Sicherheiten auf und verlangt uns vieles ab, in das es hineinzuwachsen gilt. Welche Kompetenzen wir uns aneignen müssen und welche Haltung von uns allen gefordert ist, damit der Übergang individuell und kollektiv gelingen kann, wird hier gründlich und aus Sicht verschiedenster Perspektiven herausgearbeitet.

Der Prozess des Erwachens der Seele, der im Buch erforscht wird, bewegt sich gleichzeitig in gegensätzliche Richtungen: Während uns die lebendige Entwicklungsspirale einerseits in wachsende Differenzierungsprozesse hineinschickt, geht die gegenläufige Bewegung nach innen zum Beobachter, zum Zeugen, zum Selbst, das zunehmend als inneres, vereinigendes Zentrum erwacht und die sich immer weiter auffächernden Differenzierungsprozesse in ein neues Ganzes formen kann.

Diesen Prozess zunehmender Differenzierung und Verdichtung beschreibt Tom einerseits als in Phasen gegliedert(I), sodass Wegmarken erkannt und passende Werkzeuge eingesetzt werden können, um die einzelnen Phasen zu durchschreiten und ihre jeweiligen Herausforderungen zu bewältigen. Andererseits beschreibt er diesen Prozess als unergründlich, geheimnisvoll und letztendlich „offen und wild“; wir müssen uns auf ein Abenteuer einlassen, uns ins Unbekannte hineinwagen. Schritt für Schritt finden wir unseren Weg durch gelebte Präsenz.

Wie kommt es, dass das, was uns doch ganz nah und zuinnerst ist, unsere essenzielle Lebendigkeit, unsere Seele, uns gleichzeitig auch unbekannt, offen und unergründlich erscheint?

Bevor ich dieser Frage tiefer nachgehe, möchte ich zunächst unsere persönliche Erfahrung mit Tom Yeomans schildern.

1996 haben wir, das Team des Psychosynthese Hauses Allgäu Bodensee, Tom zu uns ins Allgäu eingeladen. Obwohl die Zeit, während der er bei uns Seminare gab, begrenzt war, haben wir uns als junge Menschen tief und nachhaltig von seiner lebensdurchdrungenen und seelenleuchtenden Botschaft anstecken lassen.

Damals ging ein kraftvolles Seelenfeld auf, das bis heute lebendig ist; unsere Psychosynthese-Arbeit hier in Süddeutschland ist von dem durchwoben, was Tom damals in uns angezündet hat. Wir haben es bewahrt und gepflegt und in unsere Psychosynthese-Arbeit integriert. Wir haben eine eigene Arbeitsweise daraus gestaltet, die uns entspricht und die dieses Seelenfeld über viele hunderte TeilnehmerInnen und über Schriften und Bücher weiter hinausträgt in den deutschsprachigen Raum.

Zu diesem Seelenfeld gehört auch die Entscheidung, Toms Buch herauszubringen und es dem deutschsprachigen Publikum zur Verfügung zu stellen; eine Entscheidung, mit der sich alle, die dazu beigetragen haben, in einen Dienst gestellt und ihre Zeit, ihre Kraft, ihr Wissen und ihr Können dafür eingesetzt haben aus der Überzeugung heraus, dass dies ein wirklich wichtiges Buch ist, nicht nur, weil es Toms Lebenswerk zusammenfasst, sondern weil es in jeder Hinsicht ein „Werk“ ist. Es hat uns allen, die wir diese Arbeit als Dienst an der Psychosynthese verstehen, viel abverlangt. Toms Texte sind dicht, seine Sprache ist anspruchsvoll, sein Seelenverständnis komplex. Von den Gedichten gar nicht zu reden! All das war eine große Herausforderung für die Übersetzungsarbeit und auch für die Gestaltung des Buches. Wir haben unser Bestes gegeben, um das Heilige Feuer in der deutschen Übersetzung aufleuchten zu lassen. Es hat uns begleitet, genährt und auch erleuchtet.

Dieses Buch ist wichtig aus vielerlei Gründen. Zwei will ich hier hervorheben.

Der erste Grund ist Toms Verständnis der Seelenprozessarbeit, auf das er im Buch immer wieder verweist: „Die Seelenreise dauert lange – ein ganzes Leben lang – und selbst dann wird sie niemals vollständig verstanden, sondern bleibt wild und offen und unvollständig“, schreibt Tom und weiter „die Seele unterwirft sich in keiner Weise einer vorhersagbaren Ordnung oder einem Dogma und ist in ihrer Essenz ‚wild‘.“

Deshalb ist dies wirklich ein Abenteuerbuch. Tom hat aus seiner langen, reichhaltigen und tiefgründigen Erfahrung mit Seelenphysik – wie er es nennt – und mit Seelenprozessarbeit ein Konzept entwickelt, das sich dieser Wildheit auf besondere Weise zuwendet. Wie können wir die Seele verstehen und ihr Erwachen unterstützen, wenn sie sich doch keiner vorhersagbaren Ordnung unterwirft? Wie können wir uns auf diese Unvorhersagbarkeit so einlassen, dass wir das Seelenerwachen hilfreich unterstützen können auf allen seinen Stufen, sodass wir die Seelenkraft für unser Leben, für unsere Mitmenschen, für die Erde und auch für den Kósmos befreien können? Denn die Seele reicht bis dorthin!

Holy Fire, Heiliges Feuer, ruft das Bild des Elementes Feuer auf mit der umfassenden symbolischen Bedeutung, die darin enthalten ist. Die Metapher des Feuers, der Seelenflamme ist weit verbreitet in den spirituellen Traditionen; Tom stellt sie jedoch auf eigene Weise ins Zentrum seines Seelenverständnisses und seiner Seelen-Entwicklungsarbeit und bezieht sich dabei auf Joseph Campbell, der sagte: „Ich glaube, dass das, wonach wir suchen, eine Erfahrung des Lebendigseins ist, und zwar in einer Weise, dass unsere Lebenserfahrungen auf der rein physischen Ebene mit unserem innersten Wesenskern und unserer ureigenen Realität in Resonanz treten, sodass wir in der Tat das Entzücken des Lebendigseins spüren.“ (Joseph Campbell und Bill Moyers, Die Kraft der Mythen)

Und diese Lebenskraft will sich – laut Toms These – im Leben ausdrücken, vollständig und verlebendigend hineinfließen in das alltägliche, gewöhnliche Leben, das es mit Seelenkraft zu erfüllen gilt.

Hier kommt die zweifache Qualität des Feuers ins Spiel: Es kann wärmen und es kann verbrennen. Damit „unsere Lebenserfahrungen mit unserem innersten Wesenskern und unserer ureigenen Realität in Resonanz treten“ können, gilt es, alle Lebenserfahrungen – wie immer sie auch beschaffen sein mögen – in Freud und Leid, in ihrer Lichthaftigkeit und in ihrer Dunkelheit zu durchleben und in Gänze zu erfahren.

Das fällt uns schwer. Immer wieder sind wir versucht, dem auszuweichen, was uns plagt, was wehtut und was uns kränkt und auch dem, was uns ruft, was in uns mächtig, weise und leuchtend ist. Denn dies ruft uns in eine Verantwortung, die wir fürchten.

Und noch etwas kommt hinzu: Erst wenn, und nur in dem Maße, wie wir unsere Verteidigungsmuster als solche erkennen und lernen, uns von ihnen zu disidentifizieren, erst wenn wir uns, wie ich Tom hier übersetzen möchte, „nackt und bloß“ der Gegenwärtigkeit unseres Lebens aussetzen und mutig weiter ins Unbekannte hineinwagen, kommen wir in tieferen Kontakt mit dem heiligen Feuer in uns. Immer wieder fordert Tom uns auf: „Stay bare and seek“, eine englische Formulierung, die kaum ins Deutsche zu übersetzen ist.

„Stay bare and seek.“ „Lass alles los, was du zu wissen glaubst, und mach dich auf die Suche.“ Wie schwer ist das. Aus der Physik haben wir gelernt, dass das Universum wächst, sich immer weiter ausdehnt. Ebenso wächst das menschliche Bewusstsein, nicht nur in Umfang und Reichweite, sondern auch an Differenzierung und Vertiefung. Während wir unser Bewusstsein schärfen, erweitern und vertiefen so gut wir können, ist uns das Wachsen und Werden des Universums und damit auch unseres Bewusstseinsumfangs immer uneinholbar voraus. So gilt es immer wieder, von Neuem ins Unbekannte hinein zu gehen. Alles Schöpferische ist unvorhersehbar, nie können wir wissen, was werden wird. Und weil das so ist, und weil wir gleichzeitig am Bekannten und schon Gewussten festhalten wollen, hält die Seelenreise immer wieder neue Krisen für uns bereit, die das „Alte“, das Eingefleischte, das Festgezurrte aufbrechen und uns in neue unbekannte Regionen unserer Seelenlandschaften hineinwerfen, tiefer ins Unbekannte, dort hin, wo wir uns nicht auskennen. Die Landkarte, die Tom uns an die Hand gibt, ist dafür eine willkommene Hilfe.

Das Feuer steht für die innerste Lebenskraft. Dass es auf dem Seelenweg darum geht, den Zugang zur ursprünglichen, wilden und ungebändigten Lebenskraft wiederzufinden, ist eine der Hauptthesen des Buches. Holy Fire, diese kostbare Flamme, ist für Tom der innerste Kern der Seele, „…ein Funke der Kraft und Lebendigkeit, das Bewusstsein schärfend und weitend und dazu aufrufend, tiefer in das uns gegebene Leben einzutauchen. Und es ist dieses Feuer, so glaube ich, das uns, in einem lebendigen Universum, mit allen anderen Wesen verbindet.“

Die Betonung jenes Aspektes der Seelenreise, bei dem es um die Hinwendung zum, ja, um das Willkommen heißen des Unbekannten geht, ist vielleicht Toms ganz spezieller Beitrag zur Transpersonalen Psychologie; er hat ihn nicht nur mit besonderer Emphase erforscht und beschrieben, sondern auch praktiziert und unterrichtet.

Mit der Aufforderung „Welcome the unknown“, „Begrüße das Unbekannte“, hat Tom diesen Aspekt in eine der Guidelines für die von ihm entwickelte Spirituelle Gruppenarbeit, den sogenannten Corona-Prozess, gefasst – benannt nach dem Sternbild „Corona“, das Tom in einem Initiationstraum am Himmel hell aufleuchten sah.

Und das führt uns zum zweiten der vielfältigen Gründe, aus denen Toms Buch wichtig ist. Als Tom im Jahr 1996 zu uns ins Psychosynthese Haus kam, unterrichtete er in einem ersten Workshop „Die Spirituelle Dimension und ihr Schatten“ und in einem zweiten „Der Corona-Prozess. Gruppenarbeit im spirituellen Kontext“. Dieses Thema wollten wir weiter vertiefen und luden Tom erneut zu einem diesmal längeren Seminar ein, das 1998 am Bodensee stattfand. In diesem Seminar haben wir die „ursprüngliche Wildheit“ der Seelenkraft unmittelbar erlebt; wir drangen tief ins Unbekannte vor.

Als Tom das für 1999 geplante Folgeseminar wegen einer Erkrankung absagen musste, beschloss die Gruppe, sich trotzdem zu treffen, um sich miteinander in der spirituellen Gruppenarbeit im Corona-Modell zu üben. Diese Erfahrung war so aufrüttelnd und auch inspirierend, dass wir dieses „leiterlose“ Gruppenexperiment weiterführten.

In diesen Corona-Experimenten haben wir erlebt, wie sensibel eine Gruppe darauf reagiert, wenn einzelne TeilnehmerInnen eine Führungsrolle beanspruchen, ohne dafür von der Gruppe autorisiert zu sein. Wir haben die Machtkämpfe erlebt, die so entstehen. Wir haben erlebt, wie dann die GruppenteilnehmerInnen in ihren Ausdrucksmöglichkeiten und in ihrem Beitrag zum Gruppengeschehen beschnitten und ihrer Potenziale beraubt werden, wie die ganze Gruppe an Lebendigkeit verliert.

Wenn sich hingegen alle Teilnehmenden einbringen können mit ihren Perspektiven, mit ihrer eigenen Wahrheit, mit ihren Gaben und auch mit ihren Verwundbarkeiten, gewinnen die Gruppe und das Gruppenfeld an Kraft. Und so, wie das Gruppenfeld an Kraft gewinnt, können im gleichen Maß auch die einzelnen TeilnehmerInnen tieferen Zugang zu ihrem Potenzial, zu ihren Ressourcen finden und sie einbringen.

In diesen Experimenten haben wir erleben können, wie eine hierarchiefreie Balance zwischen Individuum und Gemeinschaft erwachsen kann. Wenn die Gruppe nicht ins Agieren fällt, sondern das zunächst oft chaotische Erleben im Gruppenfeld miteinander in der Präsenz halten kann, bildet sich allmählich eine tiefere Ordnung heraus: Das Seelenfeld der Gruppe wird zunehmend erfahrbarer und wirksamer.

Diese Erfahrung war wandlungskräftig für uns alle, die wir daran teilhatten. Im Team des Psychosynthese Hauses fanden wir sie so grundlegend für unsere Psychosynthese-Arbeit, dass wir sie in unsere Fort- und Weiterbildungen integriert und seither als eines unserer Grundfundamente in unserem Verständnis von Psychosynthese und unserer praktischen Arbeit weiterentwickelt haben.

Tom hat durch sein Lebenswerk vielerorts Seelenfelder eröffnet, so auch bei uns in Süddeutschland. Dieses Seelenfeld kann mit dem Buch, das nun in deutscher Sprache erscheint, weiter wachsen. Mögen viele daran teilhaben und sich aufmachen, unverdrossen das Unbekannte willkommen zu heißen und Toms Leitsatz zu folgen „Stay bare and seek“.

Vogt im Allgäu, November 2021

Endnote: (I) Diese Gliederung ist in vielen Theorien bekannt, so bei Jean Gebser, Ken Wilber, auch bei Clare Graves oder Don Beck und Christopher Cowan. Tom Yeomans bezieht sich aber auf keinen dieser Autoren, sondern ausschließlich auf Roberto Assagioli und auf seine persönliche Erfahrung.



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